Cicero: Über die Pflichten
Cic.off.1,18-19
Streben nach Erkenntnis. Wissenschaftsethos |
|
|
|
|
|
|
Cicero: De officiis
Cic.off.1,18-19 |
|
Cicero: Über die Pflichten
Cic.off.1,18-19 |
18,1 |
[Cic.off.1,18,1] Ex quattuor autem locis, in quos honesti naturam vimque divisimus, primus ille, qui in veri cognitione consistit, maxime naturam attingit humanam. | Von den vier Teilen, in die wir das Wesen und den Gehalt des Sittlich-Guten zerlegt haben, trifft jene erste, die Erkenntnis der Wahrheit, am meisten die menschliche Natur. |
|
|
18.2 |
[Cic.off.1,18,2] Omnes enim trahimur et ducimur ad cognitionis et scientiae cupiditatem, in qua excellere pulchrum putamus, labi autem, errare, nescire, decipi et malum et turpe ducimus. | Denn uns alle zieht und treibt das Verlangen nach Kenntnis und Wissenschaft, und ausgezeichnetes Wissen gilt als etwas Schönes; Übereilung dagegen, Irrtum, Unwissenheit, Täuschung halten wir für ein schändliches Missgeschick. |
|
|
18,3 |
[Cic.off.1,18,3] In hoc genere et naturali et honesto duo vitia vitanda sunt, unum, ne incognita pro cognitis habeamus hisque temere assentiamur, quod vitium effugere qui volet - omnes autem velle debent - adhibebit ad considerandas res et tempus et diligentiam. | Bei dieser natürlichen Art des Sittlich-Guten sind zwei Fehler zu vermeiden: der erste ist, nicht vorzugeben, man verstehe, was man nicht versteht, und unbesonnen zuzustimmen. Wer diesen Fehler vermeiden will – und es ist aller Pflicht, dies zu wollen – wird sich Zeit nehmen, die Dinge vorher mit Sorgfalt zu überlegen. |
|
|
19,1 |
[Cic.off.1,19,1] Alterum est vitium, quod quidam nimis magnum studium multamque operam in res obscuras atque difficiles conferunt easdemque non necessarias. | Der zweite Fehler besteht darin, dass man bisweilen allzu viel Fleiß und Mühe auf dunkle und schwierige, allein zugleich unfruchtbare Untersuchungen verwendet. |
|
|
19,2 |
[Cic.off.1,19,2] Quibus vitiis declinatis quod in rebus honestis et cognitione dignis operae curaeque ponetur, id iure laudabitur, ut in astrologia C. Sulpicium audimus, in geometria Sex. Pompeium ipsi cognovimus, multos in dialecticis, plures in iure civili, quae omnes artes in veri investigatione versantur, cuius studio a rebus gerendis abduci contra officium est. | Wer diese Fehler vermeidet und seinen Fleiß edlen und wissenswürdigen Gegenständen widmet, wir zu Recht Anerkennung finden. So zu seiner Zeit Gaius Sulpicius in der Astronomie, so, wie ich selbst weiß, Sextus Pompeius in der Geometrie, so viele in der Dialektik, noch mehr im bürgerlichen Recht. Obgleich aber alle diese Wissenschaften der Erforschung der Wahrheit dienen, wäre es dennoch pflichtwidrig, sich durch die Neigung dazu vom Handeln abhalten zu lassen. |
|
|
19,3 |
[Cic.off.1,19,3] Virtutis enim laus omnis in actione consistit, a qua tamen fit intermissio saepe multique dantur ad studia reditus; tum agitatio mentis, quae numquam adquiescit, potest nos in studiis cognitionis etiam sine opera nostra continere. | Denn das Verdienst der Tugend besteht durchaus im Handeln. Jedoch gestatten uns manche Pausen zur Wissenschaft zurückzukehren; dann wird schon die Tätigkeit unseres Geistes, der nie rasten kann, ohne unser Zutun, das Nachdenken über solche Gegenstände in uns rege halten. |
|
|
19,4 |
[Cic.off.1,19,4] Omnis autem cogitatio motusque animi aut in consiliis capiendis de rebus honestis et pertinentibus ad bene beateque vivendum aut in studiis scientiae cognitionisque versabitur. | Aber all unser Nachdenken und Forschen soll sich entweder mit den Grundentscheidungen, die sich auf ein tugendhaftes und glückliches Leben beziehen, oder mit der Erweiterung unseres Wissens und unserer Erkenntnis beschäftigen. |
|
|
19,5 |
[Cic.off.1,19,5] Ac de primo quidem officii fonte diximus. | Soviel von der ersten Quelle der Pflichten. |
|
|
|
|
|
Aufgabenvorschläge:
- Die Suche nach der Wahrheit vollzog sich in der Antike ausschließlich in der Philosophie. Wie hat sich wissenschaftliches Erkenntnisstreben dadurch verändert, dass sich bis heute immer mehr Einzelwissenschaften aus der Philosophie "emanzipiert" und verselbständigt haben?
- Ist Wissen an und für sich gut oder nur, wenn es für gute Zwecke eingesetzt wird? Ergeben sich ethische Probleme schon mit der Forschung selbst oder erst mit der Anwendung der Forschung?
- Welche ethischen Forderungen und von wem werden heutzutage an den Forschungsbetrieb (z.B. Zellbiologie, Kernforschung, biomedizinische Forschung) herangetragen?
- Haben Sie von Glaubwürdigkeitskrisen oder gar Skandalen gehört, die sich aus Verstößen gegen das Wissenschaftsethos erwachsen sind? Wo liegen deren möglichen Ursachen?
|
|
|
|
Übersetzung von G.G. Uebelen, bearbeitet von Egon Gottwein |
Sententiae excerptae:w4460 |
cedant arma togae, concedat laurea laudi! |
|
Es mögen die Waffen der Toga weichen, der Lorbeer dem Lob ! |
|
Cic.off.1,77 | 1587 |
Deum colit, qui novit. |
|
Gott verehrt, wer ihn kennt. |
|
Sen.epist.95,47 | 2033 |
in eadem re utilitas et turpitudo esse non potest |
|
In derselben Sache können sich Nutzen und Unsittlichkeit unmöglich nebeneinander finden. |
|
Cic.off.2,35 | 278 |
Necessitati parendum est. |
|
Der Notwendigkeit muss man sich fügen (gehorchen). |
|
Cic.off.2,74 | 1602 |
Quaedam aperta sunt, quaedam obscura: aperta, quae sensu conprehenduntur, quae memoria; obscura, quae extra haec sunt. Ratio autem non impletur manifestis: maior eius pars pulchriorque in occultis est. |
|
Einiges ist klar, einiges dunkel. Klar ist, was mit dem Sinn und Gedächtnis aufgefasst wird, dunkel, was außerhalb dieses Gebietes liegt. Die Vernunft aber begnügt sich nicht mit dem, was augenfällig ist; ihr größerer und schönerer Teil hat es mit dem Verborgenen zu tun. |
|
Sen.epist.95,62 | 2032 |
recta enim et convenientia et constantia natura desiderat aspernaturque contraria. |
|
Denn die Natur will nur das Gute, das Schöne und das Wahre, und verwirft das Gegenteil. |
|
Cic.off.2,35 | 1445 |
Scilicet insano nemo in amore videt. |
|
Ach, wen Liebe betört, dem ist das Auge verhängt! Wer wahnsinnig verliebt ist, ist sieht nicht (klar). Liebe macht blind. |
|
Prop.2,14,18 |
| |